Jahresthema 2013 Gottesdienst (2)

In der vorangegangen Ausgabe hatten wir gelesen, dass der Besuch des Gottesdienstes im 3. Gebot geregelt und nicht in unser Belieben gestellt ist, sondern dass ihn Gott von uns möchte. Nicht, damit die Kirche immer schön voll ist und die Statistik stimmt, sondern weil er uns mit seinen Geboten Regeln gegeben hat, damit unser Leben gelingt. Uns innerhalb dieses Geländers der Gebote zu bewegen ist unsere Antwort auf Gottes Liebe. Wie ein liebender Vater sich um seine Kinder sorgt und Regeln aufstellt, damit seine Kinder nicht zu Schaden kommen, so sieht auch unser himmlischer Vater weiter als wir es können und will, dass wir gut durchs Leben kommen. Dazu gehört auch, dass wir nicht nur unseren Körper gesund ernähren und ihm Ruhepausen gönnen, sondern dass wir das gleiche mit unserer Seele tun. Wenn wir das tun, nehmen wir ihn ernst und erwidern seine Liebe. Woher kommt unsere Gottesdienstform?

I. Die Anfänge

Die ersten Christen gingen noch geraume Zeit in ihre vertraute Kirche: in die Synagoge vor allem, aber auch in den Jerusalemer Tempel. So hatte es Jesus ja auch gehalten, und man verstand ihn keinesfalls als neuen Religionsgründer. Man war gleichsam noch Mitglied der "Volkskirche". Aber man hatte daneben seine eigenen Treffen. Man war davon überzeugt, dem Gottesdienst in Tempel und Synagoge etwas Entscheidendes vorauszuhaben: den auferstandenen Jesus Christus in ihrer Mitte (Matthäus 18,20), und damit, sagt Jesus, "ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen". (Lukas 11,20) Das galt für alle Erscheinungsweisen seiner irdischen Gegenwart: sein Wirken auf Straßen und Plätzen, seine Besuche und Tischgemeinschaften in Häusern von Armen und Reichen, Pharisäern und Zöllnern. Überall da war Anbruch der Gottesherrschaft zu erleben gewesen. Wie viel mehr jetzt, als sie ihn als Todesüberwinder mitten unter sich wussten und spürten: Er beansprucht, begeistert und befähigt uns in allen Lebenslagen, besonders auch da, wo wir "versammelt sind in seinem Namen". "Gottesdienst" war folglich das ganze Leben der Christen und der Christenschar, im "Alltag der Welt" wie in den Feiern der Gegenwart ihres auferstandenen "Herrn". Das meint Paulus (Römer 12,1) mit dem "vernünftigen Gottesdienst". Im Grunde sind hier - wie später bei Luther - Gottesdienst und Glaube verwoben. Der Glaube aber verwirklicht sich vielfältig: als Nachfolge in der Welt wie als "Lehre, Gemeinschaft, Brotbrechen, Gebet" in der Gemeinde (Apg. 2,42). Keine Frage, dass hier das Heilige Abendmahl eine entscheidende Rolle spielte. Hier begegnete ihnen Jesus als "Geber und Gabe zugleich". Keine Frage aber auch, dass ebenso wichtig das gemeinsame Hören auf die "lebendige Stimme" Christi war. Und ebenso wenig eine Frage, dass beides sich auswirkte in den vielfachen Geistes-Gaben (Charismen), bis hin zu Krankenheilungen, in denen sich die Gemeinde als der lebendige "Leib Christi" erlebte. So ist der christliche Gottesdienst im engeren Sinne anfangs ausschließlich Hausgottesdienst gewesen, der neben der Teilnahme am Tempelkult insbesondere die täglichen Tischgemeinschaften Jesu mit den Seinen fortsetzte (Apg. 2,46 f.). Allerdings gibt es eine Schwerpunktverlagerung. Die neuen häuslichen Treffen gewinnen an Gewicht. Und als nach und nach nicht mehr nur Juden Christen werden, sondern auch Heiden, löst sich die Bewegung der Christen von der jüdischen Liturgie. Da eine Verbindung mit irgendwelchen heidnischen Liturgien aber nicht in Frage kommt, bleibt ihr nur der Weg eine neue Form zu finden. Trotzdem ist der christliche Gottesdienst dadurch nicht traditionslos geworden. Er hat nicht nur neue Traditionen gebildet, sondern er hat  eine Menge liturgischer Traditionen des Judentums aufgenommen. Vermutlich hatten daran konvertierte griechische Synagogenvorsteher, -lektoren - und -kantoren ihren beträchtlichen Anteil. Eine Gottesdienstordnung ist uns aus der Urchristenheit nicht überliefert. Man konnte die Gestaltung dieser Feiern und Zusammenkünfte dem freien Walten des Heiligen Geistes überlassen, was eine frühe Ausbildung gewisser Grundabläufe nicht ausschloss. Aus Schilderungen etwa in 1. Korinther 12 und 14 sowie aus liturgischem Gut der neutestamentlichen Schriften können wir schließen, dass außer den Überlieferungen des Alten Testaments und der neutestamentlichen Apostel die "prophetische" Auslegung dieser Traditionen, das Gebet und der Hymnus (Lobpreis) und dazu die erwähnten "Geistesgaben" zum gottesdienstlichen Geschehen gehörten.

II. Die Alte Kirche

Dieser Geschichtsabschnitt beginnt für die Christenheit damit, dass die "Naherwartung" des Weltendes und des Gottesreiches an Bedeutung verliert. Nach Zeiten der Verfolgung kommen solche der Anerkennung als Religionsgemeinschaft, ja schließlich (im 4. Jahrhundert) als Staatsreligion. Das hat Folgen auch für den christlichen Gottesdienst. Da ändert sich der Ort: Nicht mehr "hier und dort in den Häusern" feiert man inzwischen, sondern in einem öffentli­chen Gebäude, dessen Architektur am Vorbild der Königshalle (Basilika) ausgerichtet ist. An der östlichen Stirnseite der Sitz des Bischofs als "Oberliturg", um ihn herum im Halbkreis die Presbyter ("Ältesten"), davor der Altartisch und an diesem, als "Tischdiener", die Diakone mit ihren Helfern, sofern sie nicht an den Türen oder in der Gemeinde zu tun haben. Dann die Zeit: An dem "nach der Sonne genannten Tage" (Justin, um 150 n.Chr.) versammelt man sich am helllichten Vormittag zur Feier der Gegenwart Christi. Es bildet sich dafür nun eine Gottesdienst-Form heraus, die man am besten mit dem überkonfessionellen Begriff "Messe" bezeichnen kann. Der Ablauf bleibt nicht länger dem Zufall überlassen, will man doch eine gewisse ökumenische Einheit mit anderen Gemeinden schaffen. Die erste Verlaufsbeschreibung, die wir für den Messgottesdienst besitzen, findet sich um die Mitte des 2. Jahrhunderts bei Justin (dem Märtyrer). Sie legt bereits die bis heute gültige "Grundstruktur" offen:

Lesungen: "Denkwürdigkeiten der Apostel oder Bücher der Propheten, solange es angeht"; Predigt: "der Vorsteher (in freier Rede) ermahnt und fordert feierlich zur Nachahmung dieser guten Beispiele auf"; Fürbitten: da "stehen wir alle gemeinsam auf und senden Gebete empor"; Friedenskuss: "Wir grüßen einander mit dem Kuss, wenn wir mit Beten aufgehört haben"; Bereitung: "Dann werden dem Vorsteher der Brüder Brot und ein Kelch mit Wasser und Wein gebracht"; Abendmahlsgebet: "Der Vorsteher nimmt es und beginnt, den Vater aller Dinge durch den Namen seines Sohnes und des Heiligen Geistes zu loben und zu preisen", "das Volk fällt ein und spricht: Amen", "... dass diese durch ein Gebet um das Wort, das von Gott ausgeht, unter Danksagung geweihte Nahrung... Fleisch und Blut des fleischgewordenen Jesus ist"; Austeilung: "geben die bei uns 'Diakone' genannten Männer jedem Anwesenden von dem Brot und dem Wein und Wasser, worüber die Danksagung gesprochen wurde, und bringen davon auch den Abwesenden"; Dankopfer: "Die Begüterten und, die da wollen, spenden jeder nach ihrem Vermögen".

Nicht nur optisch wird der Bischof als "monarchischer" Leiter herausgestellt. Der "Vorsteher" im Sinne der Synagoge ist zum Priester im Sinne antiker Mysterienfeiern geworden. Aber ihn umgibt eine ganze Hierarchie liturgischer Ämter. Im 4. Jahrhundert gewinnt dieser Gottesdienst noch schärfere Konturen. Die "Apostolischen Konstitutionen" berichten z. B. von Psalmengesang des Kantors zwischen den Lesungen, "das Volk soll dazu die Akrosticha wiederholen", das ist eine Art Refrain. Schon Anfang des 3. Jahrhunderts ist zudem (bei Hippolyt von Rom um 215) der Gesang des Halleluja bezeugt, worunter wohl schon damals ein Psalm mit Halleluja-Refrain zu verstehen war. Aus einer Fülle von Liturgien gleicher Grundstruktur bilden sich gleichsam liturgische Landschaften und Traditionen heraus: Vor allem beginnen sich abendländische von morgen­ländischen (westkirchliche von ostkirchlichen) Liturgien abzu­grenzen und weitgehend getrennt fortzuentwickeln. Schließlich mündet die ostkirchliche Entwicklung in die legendär auf die Kirchenväter Basilius und Chrysostomos ("Göttliche Liturgie") zurückgeführten Liturgien, im Westen in die Durchsetzung des römischen Messbuchs.

III. Das Mittelalter

Der Westen des Römischen Reiches löste sich in Etappen vom Osten: kirchlich seit 484 (endgültig 1054). Damit setzten die römischen Päpste hier ihren Führungsanspruch (Primat) durch. Liturgisch gelang das freilich erst mit Hilfe der deutschen Kaiser. Sie führten die stadtrömische Liturgie in ihrem Herrschaftsbereich gegen die dort vorfindlichen ein. Die römische Messe hat eine Fülle verschiedener liturgischer Einfalle und Traditionen zu einer Form vereinigt. Andererseits gab es jetzt klare Verhältnisse von "Grundstruktur und variabler Ausformung". Man hatte nun einen durchgeformten Eingangsteil mit Eingangspsalm, Kyrie, Gloria und Kollektengebet. Man unterschied zwischen im Jahreslauf gleichbleibenden ("Ordinarium"-) und wechselnden ("Proprium"-) Stücken. In der Messe entfaltet sich reiches musikalisches Leben, zunächst als einstimmiger Choral, später in vielfältigen Ausprägungen von Mehrstimmigkeit. Auch hier sucht Rom immer wieder zu vereinheitlichen, indem es Standards setzt: So wird der Choral zur "Gregorianik". Gregor der Große hatte um 600 wohl im Wesentlichen das Verdienst der Gründung jener römischen Choralschule, von der diese Standardisierung und Ausformung ausging. Dennoch: Gottesdienst bleibt ein Thema mit Variationen.

IV. Die Reformation und die Orthodoxie

In einer "kurzen Auslegung über Jesaja" fällt bei Luther die beiläufige Bemerkung: "Der Gottesdienst des Neuen Testaments ist: glauben, vertrauen, hoffen auf Gott, um Christi willen und durch ihn." Man dient Gott richtig, indem man sich seinen Dienst gefallen lässt. Damit knüpft er an das Neue Testament, speziell Römer 12,1, an, wo vom "lebendigen, Gott wohlgefälligen Opfer" die Rede ist. Eben dieses besteht primär im Glauben und dann freilich auch in der Nachfolge. Eine erste Konsequenz zieht Luther bereits aus dieser neutestamentlichen Sicht: Jedem Verständnis des Gottesdienstes als Opfer, als Messopfer, erteilt er eine scharfe Absage. Gewiss trifft seine Kritik heutige katholische Lehre nicht mehr. Ihr geht es nicht um "Wiederholung", sondern um "Vergegenwärtigung" des Kreuzesopfers Christi. Für Luther ist und bleibt Christus allein und immer "Geber und Gabe zugleich". Mit der Messe beschäftigen sich verschiedene Schriften Luthers. Am Ende wird der ganze Gottesdienst wieder jedermann offen zugänglich und verständlich, jeder bekommt Brot und Wein und jeder etwas in seiner Sprache zu hören. Neben das Latein als Sprache der Gebildeten und der Ökumene tritt die Muttersprache. Alles wird laut gesprochen, gesungen und vor aller Augen gehandelt. Was Luther hier entwirft, ist nichts anderes als eine "Ausformungsvariante" jener "festen Grundstruktur", von der er in allen seinen Schriften nach wie vor ganz selbstverständlich ausgeht. Er berücksichtigt unterschiedliche Situationen und Gegebenheiten, versteht seine eigenen Entwürfe nur als Vorschläge. Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert war zunächst der Pietismus vorherrschend. Dieser stellte den reformatorischen Gottesdienst in Frage, indem er - vor allem sein Begründer Philipp Jakob Spener - sich auf Luthers Gottesdienst der dritten Art berief, den Hausgottesdienst der Erweckten in den Mittelpunkt rückte und den öffentlichen Gottesdienst (ebenfalls in der Tradition Luthers) eher als Missionsveranstaltung verstand, in der Formen und Traditionen nun aber als gleichgültig, ja minderwertig galten. Dafür entdeckt man damals schon die heutigen "offenen Formen": "Andachten" mit frommen Betrachtungen im Rahmen freier Gebete und persönlich gefärbter Jesus-Lieder. In gewisser Hinsicht kann also der Pietismus als liturgisch bahnbrechend betrachtet werden. Insbesondere hat er das Verdienst, den mündigen Laien im Gottesdienst wiederentdeckt zu haben. Auch hierin war Spener einer der ersten. Und nun die Aufklärung und der Rationalismus: Die Stoßrichtung ist hier entgegengesetzt: Nicht auf einen Konvent oder gar Konventikel soll der Gottesdienst eingeengt, er soll vielmehr allen verständlich und ihrer Menschlichkeit förderlich werden. Alles soll darum die praktische Vernunft ansprechen, über Verstand und Gefühl gleichermaßen. Gottesdienst wird fast ausschließlich nur noch als Feier und Einübung wahrer Menschlichkeit verstanden. Im Sinne des Humanismus wird das menschlich Rationale über das göttlich Geheimnisvolle gestellt. Was sich wiederholt, gilt als überholt, alles muss der Predigt zuarbeiten. Auch dies waren "Gottesdienste in offener Form", wenngleich auf eine fragwürdige, wenig tiefschürfende Theologie begründet. Das Zeitalter der Romantik und Restauration suchte diese geistlich-liturgische Verarmung im Wiederanschluss an frühere Traditionen zu überwinden. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. war Mit-, wenn nicht Hauptverfasser der ersten unierten Agende, also einer gemeinsamen Agende für Lutherische und Reformierte. Eine jüngere liturgische Bewegung entsteht im christlichen Sektor der Jugendbewegung: vor allem die Hochkirchliche Vereinigung, der Berneuchener Kreis mit dem Kern der Michaelsbruderschaft und die Kirchliche Arbeit Alpirsbach. Nach dem Ende der Monarchie und in der Tristesse der Industrialisierung sucht man Halt an "erneuerten" Formen und Ordnungen gerade auch des Gottesdienstes und findet sie in Mittelalter und Reformation.  Der weltanschaulichen Infiltrierung im "Dritten Reich" sucht man weniger durch aktuelle Elemente als durch Konzentration auf Bibel und Tradition zu wehren. Nach dem Zweiten Weltkrieg sammeln sich diese Kräfte innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland in der Lutherischen Liturgischen Konferenz Deutschlands (LLK) und erhalten von den unierten und lutherischen Zusammenschlüssen den Auftrag zu einem deutschen evangelischen Agendenwerk. Als Ergebnis entstanden jedoch zwei getrennte Agenden der Lutherischen und der Unierten Kirchen. Erst seit einigen Jahren liegt ein gemeinsames Gottesdienstbuch vor. Die darin enthaltenen wenig veränderten Gottesdienstordnungen setzen sich nun langsam durch. Auch in unserer Lauterbacher Kirchgemeinde wollen wir sie in diesem Jahr einführen.